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Abitur-Rede 2005


Abitur-Rede 2005

.. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, liebe hoffentlich außerordentlich stolze Eltern und Anverwandte sowie Freunde, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe MitarbeiterInnen, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gäste!

3 Jahre und ein Monat bin ich nunmehr Schulleiter dieser Schule und darf zum vierten Mal unsere Abiturientinnen und Abiturienten in das wirkliche Leben entlassen, und es ist immer noch keine Routine geworden – obwohl der Volksmund nur den dreimaligen Ereignissen das Prädikat ‚gut’ zumisst – nein, es ist nach wie vor eine große Freude für mich, anlässlich Eurer erfolgreichen Beendigung der Schullaufbahn zu Euch und unserer Schulgemeinschaft sprechen zu dürfen. Die musikalischen Beiträge des Abends geben dabei nicht nur den Rahmen für unser kleines Fest, sondern auch die Thematik vor, wie sie treffender in der heutigen Zeit in unserer Schule vermittels der erneut faszinierenden Revue vor ein paar Wochen nicht hätte gestellt werden können.

Egon Tegge - Schulleitung

‚Ich wär’ so gerne Millionär’ oder ‚Goldfinger’ sind dabei musikalisch konzentrierte Bildlichkeiten der zentralen Frage der Revue ‚macht Geld glücklich?’, mit der Sie, liebe Abiturientinnen und Abiturienten, sich sicher in Ihrem weiteren Lebensweg auseinandersetzen müssen. Bisher stand der pekuniäre Erfolg Ihres Strebens nur sehr indirekt und vermittelt im Mittelpunkt. Sie wurden mit dem allgemeinen Versprechen auf vermutlich bessere Bezahlung infolge höherer Bildung bei schulischer Laune gehalten und manche von Ihnen haben sich folglich häufig nur soweit abgerackert, wie es Ihnen nötig erschien – die Möglichkeiten waren sicher in dem ein oder anderem Fall durchaus größer.

Aber spätestens von heute an werden Sie an den zukünftigen Stationen Ihres Lebensweges wesentlich konkreter und härter mit der Frage des ‚Brötchen Verdienens’ konfrontiert sein. Natürlich ist es nach wie vor so, dass eine höhere Bildung auch eine deutlich größere Wahrscheinlichkeit auf gut bezahlte und honorierte Positionen bietet – und insofern sind Sie mit einem Abiturzeugnis des Goethe-Gymnasiums schon einmal recht gut ausgestattet. Aber die Luft da draußen ist dünner geworden, in den Zeiten der Globalisierung und seinen komplementären Auswirkungen hierzulande, auffälligerweise mit einem semantisch eigentlich inhaltsleeren Begriff – nämlich Hartz IV – gekennzeichnet, ist es nicht mehr selbstverständlich, dass beim Verteilen des Arbeitsplatzkuchens die Abiturienten immer in der ersten Reihe sitzen.

Vor diesem Hintergrund müsste sich auch die Schule verändern, aber verändert sie sich auch in die richtige Richtung? In den unteren Stufen werden Schule und häusliche Strukturen mit einer ungeheuren Geschwindigkeit einer Veränderung unterzogen, Mutti muss mittags in ein paar Jahren nicht mehr zu Hause sein, die Schule macht sie dort überflüssig – ich sage nur Ganztagsschule, Verkürzung der Schulzeit usw. Und vielleicht ist das nicht nur in den Stadtteilen richtig, wo mittags sowieso keiner mehr zu Hause war. Aber was ist mit den inhaltlichen Veränderungen, wie sie auch in Ihrem schulischen Lebensweg bereits auftraten: Und da möchte ich Ihnen zunächst sagen, dass wir und ich, KollegInnen und Schulleitung, außerordentlich stolz auf Sie sind, denn Sie haben das erste Zentralabitur erfolgreich absolviert, das auch von uns Lehrkräften mit gewissen Bauchschmerzen erwartet wurde, weil ja einer einheitlichen Prüfung eine größere Objektivität unterstellt wird, und man schon Sorgen hatte, wie man bei einem hamburgweiten Vergleich abschneiden würde. Das Ergebnis zeigt nun zur allgemeinen Erleichterung nicht nur an unserer Schule keinen Unterschied zum langjährigen Mittel – eher das positive Gegenteil - und insofern steht die angebliche Objektivität und damit die grundsätzliche Behauptung, dass zentrale Prüfungen Sie nun angeblich besser für Studium oder Praxis qualifizieren und eine Verbesserung von Schule bewirken, auf dem ideologischen Prüfstand.

Klar, es sind für diese zentralen Prüfungen gigantische Anstrengungen von der Bildungsbürokratie angestellt worden, wir Lehrer haben wesentlich mehr Zeit als sonst in die Korrekturen und Gutachten ver – na sagen wir ruhig - verbraten, und den Sinn solchen Tuns bezweifelt man nicht so ganz leichtfertig, dass man nämlich in der Vereinheitlichung von Schule das bildungspolitische Heil zu finden versucht. Und da auch die Zone im Osten, nein die ehemalige DDR und deren Bildungseinheitsbrei seit 15 Jahren abgewickelt ist, besteht auch keine Gefahr mehr, dass der, der Zentrales fordert, ein ‚geh doch nach drüben’ hören wird. Aber wenn man aus unserem Nachbarland im Westen, ausgerechnet der Geburtsstätte der égalité, die staatlichen Bestrebungen vernimmt, das Zentralabitur abzuschaffen – und zwar mit dem selben Argument, mit dem es hier eingeführt wurde – angeblich um die Qualität der Bildung zu steigern, dann kommt man doch ziemlich ins Grübeln: Werden hier unter Umständen nur viele schöne neue Waagen (mit zwei aa) in unserem Land aufgestellt, deren High-Quality-Standard-out-fits frei nach amerikanischen Home-shopping-Vorbildern – jüngst genial in unserer Revue gesehen - unsere Sinne umnebeln sollen, obwohl doch eigentlich klar ist, dass auch das häufigere Wiegen auf neuen Waagen die bekannten Schweine nicht fetter macht, das täte nur die Futtermenge – und die wird und wurde in den letzten 15 Jahren immer weniger, wenn man die Schüler-Lehrerrelation, die Mittelausstattung, oder schlicht die finanzpolitische Wertschätzung, neudeutsch: die Investitionsquote in die Bildung von jungen Menschen in unserem Lande einmal zugrunde legt. Nein, dadurch dass man rankt und testet, entsteht noch keine neue zukunftsfähige Schule, unter Umständen sogar das Gegenteil, wenn nämlich die benchmarks des Lernens die Inhalte von Bildung ersetzen. Klar, wer Waschmittel verkauft, will hohe Umsatzzahlen, die sind gut. Aber ist diese angloamerikanische Denkweise, wie sie für den shareholder gut ist und die den Erfolg des Einzelnen in den Mittel-punkt des Tuns stellt, auch der richtige Ratgeber in der Gestal-tungsweise gemeinschaftlicher Bildungsprozesses von jungen Menschen? Könnte Zukunftsfähigkeit sich angesichts der jüngsten China- und Asiendebatten, deren Gesellschaften den Erfolg im Wir, in der Gemeinschaft betonen, sich nicht auch in ganz anderen Elementen ausdrücken, die durch das neue - aber irgendwo doch auch zutiefst deutsche regelungswütige Insistieren auf Stundenauflagen, Fachauflagen und Prüfungsauflagen zur Erreichung bester Vergleichszahlen nur behindert werden.

Sie merkten diese Entwicklungen nur im Ansatz und intensivierten Ihr ‚Learning for the test-Verhalten.’ Aber in den unteren Jahrgängen quälen uns schon die Fragen: Woher sollen wir bei einem so engen Korsett z.B. die notwendige Zeit für berufsvorbereitende ‚Zielorientierungsseminare’ nehmen, mit denen Sie besser als früher sich selbst und ihren beruflichen Werdegang einschätzen können, wie sollen wir z.B. es ausbauen, dass die Schüler mehr als bisher die Möglichkeit haben, an unserer Schule in pädagogischen Bezügen soziale und Vermittlungskompetenzen gegen eine entsprechende Bezahlung mit professionellem Coaching erproben können, wie sollen wir z.B. die europäische Erweiterung in konkreten Projekten und Kontakten im Rahmen von Comenius hier Gestalt annehmen lassen, aber dabei parallel die versammelten Fachinhalte des Bildungskanons des 20. Jhdts. nicht vernachlässigen, wie sollen wir z.B. die Fremdsprachenkompetenzen breit erweitern, wenn Auslandsaufenthalte und Austauschprogramme auf dem Schulzeitverkürzungsaltar geopfert werden, wie sollen wir z.B. die Kreativität beim jugendlichen Experimentieren und Forschen anregen, wenn der Schultag einer ver-regelten 40 Stundenwoche gleicht – das alles und noch viel mehr sind Dinge, die noch an unserer Schule laufen, aber ungeheure Kraft kosten, weil man sie gegen den Mainstream von standardge-sicherten Unterrichtsinhalten betreiben muss.

Klar, es ist schon schick, wenn in jeder Diskothek alle 5000 Schüler eines Abi-Jahrgangs in ganz Hamburg eine gemeinsame Gesprächsgrundlage anhand Goethes Wahlverwandtschaften haben, aber ist das auch ein Fortschritt? oder noch mal zum Nachdenken: wie standen unsere Politiker – und gerade die Konservativen – vor ein paar Jahren zur totalen Vereinheitlichung von Bildung in der DDR? Oder mal eine ganz andere Überlegung: wie misst man eigentlich den Lernerfolg, den jene 100 Mitwirkende der Revue erreicht haben, den Zuwachs an personellen Kompetenzen, an Kooperationsfähigkeit, an Belastbarkeit etc. Drückt sich darin nicht genau jenes asiatische Wir aus, und werden in der immer stärker vorgetragenen Sorge von Kollegen, dass ihnen die Zeit für die Vorbereitung für die Vergleichsarbeiten fehle, wenn die Schule solche und viele Projekte mache, nicht genau jener Effekt sichtbar, den wir kritisch befragen sollten? Laufen wir Gefahr, weil mathematische Operationen und grammatische Strukturen eben leichter testbar sind, dass die damit verbundenen Unterrichtsinhalte und -gestaltungen die Oberhand gewinnen? Und umgekehrt gefragt - hätten Sie, liebe Abiturientin-nen und Abiturienten, auf diese bei uns erlebten, gemeinschaftsorientierten Inhalte von Bildung verzichten wollen?

Wenn man derart genauer auf die inhaltlichen Veränderungen schaut, die gegenwärtig ablaufen oder die ins Haus stehen, wird eventuell auch eine politische Dimension deutlich, die komplementär zur Bedeutungsüberhöhung der Vergleichszahlen und der Zent-ralisierung sich hinter dem Rücken von Schülern und Eltern in der Schule einnistet: In dem Sinne wie das Wiegen und Testen Platz greift, um die geneigte Öffentlichkeit von den vorgenommenen ‚Einsparungen’ abzulenken – und entschuldigen Sie den kleinen Ausflug, dass ich Sie bitte, sich dieses Wort einmal genauer anzuschauen, das absolut Positive, das im Sparen steckt, die Begrifflichkeit schlechthin, die das Vorsorgen für die Zukunft meint, aus-gerechnet dieser Begriff etikettiert die Reduzierung von Bildungsausgaben - genau in diesem Sinne werden auch die Gehirne der Betroffenen erobert und lässt sie (nämlich die Schüler) weniger leicht die Frage stellen, wieso heißt es eigentlich völlig inhaltsleer ‚Hartz IV’, obwohl im Geschichtsbuch bei vergleichbaren Prozessen der Vergangenheit Begriffe wie Pauperisierung oder Massenverarmung genannt werden oder von ‚der Unfähigkeit der herrschenden Schicht zu sozialen Reformen’ die Rede ist, wo die ‚Verteilungs- oder Beteiligungsfrage’ den Schülern als Lernstoff begegnet, der aber im neuen Modell austauschbarer Lernstoff bleibt und nicht eine historische Erfahrung wird, aus der man eigentlich lernen sollte, um nicht – wie Bert Brecht sagte, eben diese Geschichte wiederholen zu müssen.

Ich will diesen Festtag in ihrem Leben sicher nicht mit einer düsteren Zukunftsperspektive belasten, aber wir alle – und Sie, die sie in wenigen Jahren zunehmend mehr Verantwortung für die Gestaltung dieses Landes und ihrer Zukunft übernehmen werden, sollten sehr wachsam sein, dass mit dem, was gegenwärtig als angebliche Modernisierung durch die Bildungseinrichtungen unseres Landes schwappt, nicht die Unfähigkeit zur konstruktiven Kritik auf der einen Seite begünstigt und auf der anderen Seite zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten führt, die einfach – da staatliche Unterstützungssysteme immer weiter zurückgefahren werden - vor den Hürden der Büchergelder, Essensgelder, Fahrgelder, Studiengebühren usw. kapitulieren. Die Form der Auseinandersetzung, die dann die Kinder dieser Schichten als ihr survival of the fittest dem Rest der Gesellschaft aufnötigen werden, könnte auch uns – milde formuliert - hochgradig unappetitliche und unwillkommene Strukturen aufnötigen – die Beispiele aus Südamerika und anderswo, wo sich die weniger werdenden Reichen hinter immer höheren Mauern im eigenen Land verbarrikadieren, erscheinen mir jedenfalls nicht als prickelndes Zukunftsmodell.

Insofern kann die zentrale Frage der Abende der Revue wie auch dieses Abends – macht Geld glücklich? bezogen auf die Bildung und auf unsere Gesellschaft schon dahingehend beantwortet werden, dass Geld an der richtigen Stelle, in der richtigen Menge und zum rechten Zeitpunkt schon zum Glück von jungen wie alten Menschen und damit der gesamten Gesellschaft entscheidend beitragen kann. Und dass es immer wieder Schieflagen dabei gibt, kann man in der heutigen Zeit immer stärker spüren. Dennoch will ich die damit aufgeworfene Verteilungsfrage nicht beeinflussen, nur für den Bildungsbereich, für den ich mich an leitender Stelle verantwortlich fühle, möchte ich das klare Bekenntnis ablegen – wer an der Bildung spart oder die Bildung nur noch dem freien Markt überantwortet, betreibt keine Politik der Zukunftssicherung der gesamten Gesellschaft, sondern das schnöde Geschäft der klammheimlichen Umverteilung zugunsten partikularer Gruppen.

Sie alle, die gleich den bisher größten Erfolg in ihrem Leben in Händen halten, möchte ich aufrufen, dem etwas entgegenzusetzen indem Sie den Geist unserer Schule verbreiten und leben, der den Menschen nicht nach seinen benchmarks, sondern nach seiner Sozialität ein- oder wertschätzt, der das Gruppenerlebnis und den Ensembleerfolg als zentralen Wert begreift und nicht die Fähigkeit, als Einzelkämpfer über Leichen zu gehen, trainiert, und der auf die Frage des Popsongs – ‚Wann ist ein Mensch ein Mensch?’ sich die entsprechende Antwort zeitlebens bewahrt – wenn er weint und wenn er lacht.


Egon Tegge - Schulleiter 07/2005